Leserbrief zum UNO-Beitritt der Schweiz

von Dietmar-Dominik Hennig, Stuttgart
Der Autor ist Vorstandsmitglied der Liberalen Gesellschaft e.V. (Berlin) , und Mitglied der bundesdeutschen FDP.

Nun bläßt fortan auch in Europas ältester Demokratie der rauhe Wind internationalistischer Demokratieverächter. Durch diese Volksabstimmung ist in der Schweiz mehr kaputtgegangen, als die euphorischen Kommentare im In- wie Ausland bislang vermuten lassen. Nicht so sehr das Resultat selbst, welches die Eidgenossen wohl noch irgendwie verschmerzen können, als vielmehr die mit diesem Abstimmungskampf umsichgreifende, bis dato nie dagewesene Verrohung der Sitten, die für Schweizer Verhältnisse ganz und gar untypisch ist, bereitet mir als Freund dieses Landes große Sorgen. Eine übermächtige, intellektuellen Terror ausübende Meinungsfront, die von der bunten Latrinenjournaille aus dem Hause Ringier bis hin zur ehemals seriösen NZZ reichte, ausgestattet mit einem dicken finanziellen Polster (u.a. durch das starke Engagement der Économie Suisse), sekundiert durch eine ausgesprochen tendenziöse TV-Berichterstattung des DRS (für deren Gewährleistung bereits im Vorfeld zur objektiven Berichterstattung neigende Journalisten wie ARENA-Erfinder Filippo Leutenegger aus dem Verkehr gezogen wurden), garniert mit unverholen parteiischer Regierungspropaganda und einem für den Abstimmungskampf rekrutierten Beamtenapparat, pflügte das gesamte Land um, errang aber trotz dieser maximalen Materialschlacht mit etwa 55 Prozent nur einen knappen Sieg. All diese Vorgänge lassen in nie gekannte Abgründe blicken, die für die schweizerische Zukunft nichts Gutes verheißen.

Dabei geht es bei der seit Jahren in immer kürzeren Intervallen wiederkehrenden Debatte im Grundsatz um die Frage, ob der "Sonderfall Schweiz" durch den Wegfall der Ost-West-Konfrontation anachronistisch geworden, d.h. das Staatsverständnis der Neutralität durch eine "Öffnungspolitik" zu korrigieren sei, oder ob gerade dieses einzigartige "Experiment" auch unter einer völlig veränderten globalen Großwetterlage noch seine Berechtigung habe. Dazu müßten die Reflexionseliten, die opinion leaders, die ihre wohlfeile Kritik am Außenseiterdasein der Schweiz nicht müde werden abzusondern, zunächst einmal erklären, worin denn nun konkret dieser dringend korrekturbedürftige "Sonderfall" besteht. In der direkten Demokratie? Im Wohlstand für breiteste Volksschichten? Im konsequent praktizierten Wettbewerbsföderalismus? In der durch vernünftige Ordnungspolitik geschaffenen gesunden marktwirtschaftlichen Struktur? In der traditionell nicht-militärischen sondern humanitär ausgerichteten Außenpolitik? Im freiheitlichen Staatsethos? In der allgemein höheren Lebensqualität als irgendwo sonst in Europa? Im geringer als anderswo ausgeprägten Fiskalkleptokratismus? In der weitgehenden Abwesenheit von Gängelung und Zwang der Bürger in allen Lebensbereichen? Im relativ enthaltsamen, sich Zurückhaltung auferlegenden Staat nach außen und innen? Im regelmäßigen Scheitern aller Versuche selbsternannter Sozialingenieure, das Schweizervolk dazu zu bewegen, seine Freiheit einer schönen Idee zu opfern, da es für utopisch-messianische Heilsversprechen und Totalitarismen jedweder Coleur unempfänglich ist?

Die Schweiz ist das weltweit einzige Gemeinwesen, das zumindest der Spur nach auf der Grundlage des klassischen Liberalismus geschaffen wurde. Dieser ist an sich intellektuell zu anspruchsvoll, um mehrheitsfähig zu sein, wie wir aus der Theorie seit Hayek, aus der Praxis seit dem Scheitern des Bundes Freier Bürger wissen. Bedauerlicherweise werden nunmehr auch in der Schweiz, dem letzten Bollwerk gegen die sozialistische europäische Rätediktatur, die Dämme gegen den gleichmacherischen Ungeist brüchig, die Kritiker einer schrittweisen Aushöhlung und schließlich - horrible dictu - Auflösung der Schweiz bisweilen gerne als Hinterweltler mokant belächelt oder aber zunehmend als NEIN-Sager diffamiert. Dabei sagen die angeblichen NEIN-Sager als einzige klipp und klar und ohne viel Brimborium, was sie wollen und wofür sie einstehen: eine unabhängige und neutrale Schweiz. Wer diese banal-geniale Erfindung als "Sonderfall" diskreditiert, ist der eigentliche NEIN-Sager. Er soll endlich, wie man in Norddeutschland sagen würde, "Butter bei die Fische tun", und Farbe bekennen, wohin die Reise denn eigentlich gehen soll. Wer den "Sonderfall" ablehnt, muß begründen, wie seiner Ansicht nach der "Regelfall" aussieht oder auszusehen hat und worin er die Chancen erblickt, mit diesem die Herausforderungen der Zukunft besser zu meistern als mit den klassischen Instrumentarien der immerwährenden, bewaffneten Neutralität. Wer das bisherige Schweizer Modell ablehnt, so wie die Freisinnigen von der FDP, die lapidar der AUNS (der neben SVPlern übrigens auch etliche FDP-Mitglieder angehören) und damit ja auch der Idee von Unabhängigkeit und Neutralität schlicht die Existenzberechtigung absprechen, möge doch bitte von seinem Gegenmodell den Schleier ziehen, damit man zu einem komparativen Systemvergleich gelangen kann. Diesen Systemvergleich versuchen sich die JA-Sager ("JA" wozu eigentlich?) gerne mit verbalerotischen Beschwörungsformeln wie "Weltoffenheit", "internationale Solidarität", "Kooperationsbereitschaft", "Zukunftsfähigkeit" oder auch "Aktive Friedenspolitik" (ein Euphemismus für ein hybrides Politikverständnis weltweiter interventionistischer Einmischung) zu ersparen. Das sollten wir diesen argumentativen Drückebergern nicht durchgehen lassen!

Der authentische Liberale Robert Nef, hat die Vorzüge der Neutralität ganz klar benannt: "Neutralität ist ein hochkomplexes, häufig missdeutetes Überlebensprinzip eines Nicht-Mächtigen, der seine Eigenständigkeit wahren möchte. Das Prinzip hat viel mit dem innen- und aussenpolitischen Machtverzicht einer Regierung zu tun. Es beruht auf einer Art Macht-Abstinenz, die eine sehr markante radikal-liberale Komponente hat,[...] Ein aussenpolitisch neutraler Staat hat weniger Probleme, auch innenpolitisch und wirtschaftspolitisch machtabstinent zu sein."

Gerade Liberale sollten den Mut zur Originalität, zur Eigenständigkeit, zur Nicht-Anpassung, kurz: zur Freiheit aufbringen, statt sich aus Opportunismus in globale und regionale Großstrukturen willfährig einzufügen. Die FDP in der Schweiz hat dieser Mut indes verlassen, weshalb beispielsweise der freisinnige Nationalrat Luzi Stamm konsequenterweise zur Schweizerischen Volkspartei Christoph Blochers gewechselt ist. Es gehört wohl zur Tragik der liberalen Parteien Europas, daß sie regelmäßig vor der Geschichte versagen.

Als der westdeutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer in den fünfziger Jahren die durchaus umstrittene "Westbindung", mit welcher die deutsche Teilung auf Jahrzehnte hinaus zementiert wurde, rigoros und gegen alle Widerstände durchboxte, war damals einer seiner profiliertesten Gegner der große Liberale, Justizminister und nachmalige FDP-Vorsitzende Dr. Thomas Dehler (auf den sich die bundesdeutsche FDP heute noch so gerne beruft). Um die in allen parteipolitischen Lagern beheimateten neutralistischen Kritiker Adenauers mundtot zu machen, orakelte man warnend vor dem "deutschen Sonderweg", der unter Androhung von Ungemach keinesfalls beschritten werden dürfte; eine Methode übrigens, die dem heutzutage in der Schweiz häufig anzutreffenden reflexartig ausgerülpsten "Sonderfall"-Vorwurf nicht eben unähnlich war. Das Manöver Adenauers war erfolgreich, und so kommt es, daß das überall eingebundene Deutschland - mit einem vermeintlich geläuterten Straßenrowdy als Außenminister - gegenwärtig eine im Grundsatz auch von der FDP mitgetragene Außenpolitik betreibt, die, von allerlei pekuniären Verpflichtungen einmal abgesehen, in Kontinuität zu Kaiser Wilhelm schon dafür Sorge tragen wird, daß wir permanent in alle möglichen und unmöglichen Konflikte hineingezogen werden und uns die immer exotischer werdenden Bundeswehr-Einsatzgebiete nicht ausgehen werden. Statt auf dem Sonderweg befinden wir Deutschen uns nun auf dem Irrweg ins Nirwana einer nebulösen "Weltinnenpolitik". Die Eidgenossen sollten, bevor ihnen die nächste Schlacht - der von interessierten Kreisen forcierte allfällige Beitritt in einen zentralistischen Moloch namens EU - abermals ins Haus steht, noch einmal grundsätzlich darüber nachdenken, ob es sich für ein kleines Land wirklich lohnt, unseren verhängnisvollen Irrtümern zu folgen. Sie hätten in jedem Fall dabei mehr zu verlieren, als sie gewinnen könnten, wenn sie freiwillig etwas aufgeben, was wir Deutschen nie besessen haben: eine echte Demokratie.

Dietmar-Dominik Hennig