Sehr geehrter Herr Bundesrat!

Herrn
Bundesrat Josef Deiss
Aussenminister
Bundeshaus
3003 B e r n

Sehr geehrter Herr Bundesrat!

Mit Interesse habe ich bisher Ihre Auftritt verfolgt. Aber je länger, desto mehr zweifle ich an Ihrer Aufrichtigkeit. Jedesmal, wenn ich die abgedroschenen und unwahren Argumente für einen UNO-Beitritt höre oder lese, frage ich mich, was für Interessen vertritt dieser Mann? Auf keinen Fall diejenigen der Schweiz. Manchmal wird man das Gefühl nicht los, dass Sie irgendwie fremdbestimmt werden. Oder haben Sie ganz einfach die UNO-Charta nicht im Wortlaut gelesen oder falsch interpretiert?

Seit der Veröffentlichung des Brahimi-Berichtes ist klar, dass sich die UNO wirklich verändert hat, leider nicht im positiven Sinne. Wir müssen uns von der bisherigen Vor- stellung, dass die UNO Frieden symbolisiert, wehmütig und schmerzhaft trennen. Die bisher in erster Linie angestrebten Vermittlungsbemühungen sollen neuerdings viel schneller durch 'robuste friedenserhaltende' oder 'robuste friedensstiftende' Einsätze [neuer Ausdruck für militärische Gewalt] ersetzt werden.

Damit kommt unserer absolut neutralen Vermittlungstätigkeit wieder vermehrte Bedeutung zu. Wir können damit nicht nur Länder, sondern auch Volksstämme unterstützen, die in der UNO nicht vertreten sind. Auch Länder, die - aus ihrer Sicht ungerechterweise - durch die UNO gerügt oder verurteilt wurden, könnten noch angehört werden. Bedenken Sie, dass sich oft beide Seiten im Recht glauben. Würden Sie sich als Richter für unfehlbar halten?

Sehr geehrter Herr Bundesrat, nehmen Sie doch die einmalige Gelegenheit wahr, der Völker-gemeinschaft zu zeigen, was für Möglichkeiten unsere Neutralität für sie in vielen ausweglos scheinenden Fällen bieten kann. Diese guten Dienste sind tausendmal mehr wert als unser 'Pseudo-Mitbestimmungsrecht' in der UNO-Vollversammlung. Wenn die übrigen 189 UNO-Mitglieder den Grund unseres Nichtbeitritts erfahren, dann sind wir auf der 'Werteskala' wieder ganz oben!

Mit freundlichen Grüssen
Werner Gall