1. August-Ansprache 2002 "....und die Jugend hat das Wort"
für die Gemeinde Uzwil

Liebe Uzwilerinnen, liebe Uzwiler
Herr Gemeindepräsident, geschätzte Gäste

Im Rahmen des Projektes "...und die Jugend hat das Wort" der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände darf ich heute gemeinsam mit Ihnen den 1. August feiern. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass eine Gemeinde einem Jugendlichen aus der Region die Möglichkeit gibt, am 1. August die Ansprache zu halten. Für diesen Mut und die Einladung möchte ich der Gemeinde Uzwil ganz herzlich danken.

Wie in jedem Lebensweg gab es auch auf dem Weg unseres Landes nicht nur Höhen. Aber man brachte immer wieder den Willen auf, gemeinsam die anstehenden Probleme zu lösen. Auch wenn in diesem Land einiges nicht rund läuft, denken wir nur an die tragischen Ereignisse und Rückschläge vom letzen Jahr. Dies sollte uns doch am heutigen Nationalfeiertag Mut und Zuversicht geben, die heutigen und die zukünftigen Herausforderungen zu bestehen.

Die Eidgenossenschaft durchlebte viele Tiefen und Bedrohungen. Doch immer gab es Bürger, die dafür sorgten, dass der Schweiz die Treue bewahrt wurde. Genau diesen Bürgern sind wir heute zu grossem Dank verpflichtet. Sie sorgten dafür, dass die Schweiz zu einer Erfolgsgeschichte wurde und wir heute in Frieden und Wohlstand leben können.

Wenn wir an die Menschen denken, die sich für unsere Unabhängigkeit einsetzten, dann kommen uns zuerst die militärischen Bedrohungen in den Sinn. Vom jahrhundertelangen Freiheitskampf gegen die Habsburger und andere Grossmächte bis zur Umzingelung in den beiden Weltkriegen ist die Geschichte unseres Landes eine Geschichte der Wehrhaftigkeit. Aber nicht nur auf militärischer Ebene, auch auf politischer Ebene wurde mit Erfolg für die Unabhängigkeit des Landes gekämpft, zum Beispiel beim Westfälischen Frieden 1648 oder beim Wiener Kongress 1815. (-> Neutralität)

Vergessen wir aber auch eine weitere Ebene nicht. Die Grundlagen unserer heutigen Schweiz wurden in der Mitte des vorletzten Jahrhunderts geschaffen. Damals entstand der heutige Bundesstaat. Strassen und Eisenbahnen wurden gebaut, und es entwickelte sich eine blühende Industrie. Im ganzen Land wurden Schulen eingerichtet. Um all das finanzieren zu können, entwickelte sich auch der Bankensektor. Den bis heute anhaltenden wirtschaftlichen Erfolg verdanken wir den damaligen weitblickenden Staatsmännern und den mutigen Industriellen. Gerade hier in Uzwil spüren wir, welch wichtige Rolle die Industrie gespielt hat und auch heute noch spielt. Zu Dank verpflichtet sind wir aber nicht nur den Unternehmern, sondern auch den Arbeiterinnen und Arbeitern in den Fabriken, die unter Entbehrungen, bei knappem Lohn für sechs lange Arbeitstage in der Woche und ohne Ferienanspruch schaffen mussten. Während die Industrie emporstrebte, verlor die Landwirtschaft Land und Arbeitskräfte; die verbliebenen Landwirte waren gezwungen, immer rationeller für eine wachsende Bevölkerung Nahrung zu produzieren. Wir klagen heute oft über Stress. Aber wir können uns kaum mehr vorstellen, welch hartes Leben die Schweizerinnen und Schweizer noch vor 100 Jahren führten.

Was diese Menschen hart erarbeiteten, davon zehren wir noch heute. Es schmerzt darum, wenn wir mit ansehen müssen, wie im Zeichen der heutigen Globalisierung viel von diesem Erbe verscherbelt wird. Wie manche alteingesessene Firma, wie manches Produkt, das einst der Stolz unseres Landes war, wie mancher vertraute Markenname ist in ausländische Hände übergegangen oder verschwunden. Denken wir nur daran, was sich in Winterthur oder in Arbon in den letzten Jahren abgespielt hat. So mancher Schweizer Betrieb und dadurch auch Arbeitsplätze, Einnahmen und ein Stück Unabhängigkeit wurden leichtfertig ins Ausland verschleudert.

Zum Glück, und da liegt meine Hoffnung, gibt auch positive Beispiele, alteingesessene Betriebe, die sich nach wie vor behaupten. Schweizer Betriebe, welche mit Kunden aus der ganzen Welt offen und erfolgreich verhandeln und gleichzeitig ihrer Werte und Tradition bewusst sind, indem sie Arbeitsplätze und Firmenbesitz in der Region oder gar in der Familie behalten. So sollte es sein. Gerade hier in Uzwil gibt es hervorragende Beispiele, welche für manchen Schweizer Betrieb eine Vorbildsfunktion einnehmen.

Weltoffenheit und Fortschritt, gepaart mit bodenständiger Tradition und Werte-Bewusstsein - diese Mischung ist nicht nur ideal für Schweizer Unternehmen. Aus dieser Mischung schöpft auch die Gemeinde Uzwil und schlussendlich die Schweiz ihre Kraft. Vielfältigste Facetten und eine mehrheitlich verantwortungsbewusste Bevölkerung prägen unser Land und dies macht es so interessant. Es wird immer wieder behauptet, die Schweiz sei ein langweiliges Land. Ich finde das überhaupt nicht. Man muss sich doch nur umschauen hier. Ich finde wirklich, unser Land ist interessant!

Trotz all den beängstigenden Entwicklungen zeichnet sich die Schweiz nach wie vor durch ein hohes Mass an Sicherheit, Volkswohlstand und einmalige Freiheitsrechte aus. Dies hat stark mit den Besonderheiten unseres Landes zu tun: Weltoffen sowie international solidarisch sein, aber unabhängig bleiben und sich nicht in internationale Grossgebilde und Machtstrukturen einbinden zu lassen: Das ist das bewährte, vom Volk getragene und zugleich hochmoderne aussenpolitische Konzept unseres Kleinstaates!

Mir sind nationalistische wie internationalistische Ideologien zuwider. Aber eine Welt ohne Nationalstaaten kann es nicht geben. Gerade auch in Zeiten der Globalisierung braucht jeder Mensch eine Identität und eine eigene Kultur. Ihr Verlust führt zu Vereinsamung, Entwurzelung und Traurigkeit. Ich bin äusserst dankbar, hier eine Heimat zu haben. Es ist an uns, die Erfolgsgeschichte Schweiz weiterzuführen. Unsere Nachfahren sollen am tausendsten Geburtstag der Schweiz im Jahr 2291 ihr Fest nicht im Museum feiern müssen. Auch dann soll es heissen: La Suisse existe!

Heute, am Nationalfeiertag, erleben wir es wieder - gerade wenn wir diese Feier in Uzwil mit der schweizerfahnenfreien Zone an der Expo vergleichen: Wir Schweizer brauchen keine komplizierte Erklärung dafür, was unsere Nation ist. Die Schweiz ist einfach unser Zuhause - es ist das Land, in dem wir gerne leben, zu dem wir uns gerne bekennen, das wir interessant finden, das wir lieben - und das wir zu schützen bereit sind.

Alle, ob gross, klein, alt, jung, links, rechts, arm, reich gehören zur Schweiz.

Vielleicht haben Sie erwartet, dass ich heute über den Generationenkonflikt, über die Probleme und Gräben zwischen alt und jung sprechen werde. Doch Unterschiede zwischen den Generationen hat es immer gegeben und wird es auch immer geben. Denken wir zurück an die Globus-Krawalle der 70er-Jahre in Zürich. Das ist nicht wichtig.
Wirklich wichtig ist, was alle zusammenhält: Es ist das Gefühl der Zugehörigkeit zu unserem Land und insbesondere die gelebte Demokratie, welche die Menschen dieses Landes vereint.. Diese Menschen sind unterschiedlicher, wie kaum sonst wo: verschiedene Religionen, vier verschiedene Sprachen, unterschiedliche Mentalitäten in Stadt und Land, vielfältige Interessen etc.

Etwas ganz Besonderes an unserem Staat, um das uns viele beneiden, ist die direkte Demokratie. Sie ist das stärkste Bollwerk, gegen die immer grösser werdenden Machtkonzentrationen, auf politischer wie auf wirtschaftlicher, auf nationaler wie auf internationaler Ebene. Sie hält unser Land zusammen, sie ist der beste Beweis für ein friedliches Zusammenleben der unterschiedlichsten Kulturen in Frieden und Freiheit und sie trägt wesentlich zu unserem Wohlstand bei. Tragen wir Sorge zu ihr!

Unsere Schweiz feiert heute Geburtstag. Ich nehme an, Sie mögen sie, und möchten ihr darum ein Geschenk machen. Was könnte das sein?

Ihr Verantwortungsbewusstsein, Ihr Engagement und Ihre Hingabe sind das schönste Geburtstagsgeschenk, das Sie der Schweiz, somit den zukünftigen Generationen und auch mir bereiten können. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie sich zum Wohl Ihrer Familien einsetzen, auch für Ihre Gemeinde, für den Kanton St.Gallen und damit für unser schönes Land. Sie übernehmen damit Verantwortung und tragen die Erfolgsgeschichte Schweiz weiter. Ich meine, diese Eigenverantwortung ist etwas ganz Entscheidendes.

Wir sind uns alle darüber im klaren und bewusst, dass verschiedene Kulturen und ethnische Gruppen nur in Freiheit und Frieden miteinander leben können, wenn zwei grundlegende Bedingungen erfüllt sind: Erstens ein funktionierender, dezentralisierter Föderalismus und zweitens eine effiziente und florierende Wirtschaft, die Wohlstand und Arbeitsplätze schafft. Die alten Föderationen dieser Welt haben gezeigt, dass dies keinesfalls ein utopischer Traum bleiben muss.

Deshalb appelliere ich an die Jugend: Lasst uns die Welt föderalistisch und dezentral gestalten, die Regionen und Kulturen müssen frei atmen dürfen. Lasst uns die Demokratie verbreiten, indem wir Machtmonopole brechen und die Macht auf verschiedene Stufen verteilen, indem wir einzelnen Bürgern mehr Verantwortung zugestehen. Die Verantwortung bleibt den Bürgerinnen und Bürgern aber nur erhalten, wenn sie davon durch aktive Beteiligung am politischen Leben Gebrauch machen. Politik ist nicht ein Hobby für eine Minderheit. Sie geht alle etwas an.

An die ältere Generation appelliere ich: Denkt daran, dass ihr die Vorbilder der Jugend seid und nehmt Eure Aufgabe wahr. Lasst die Jugend nicht im Stich auf ihrem Lebensweg und im Einsatz für die Zukunft dieses Landes. Es braucht nicht nur die Jugend, es braucht alle! Aber vermittelt auch der Jugend Werte, welche Ihr mitbekommen habt. Gerade der Werteverlust und das daraus folgende Desinteresse ist ein grosser Bremser des Engagements für junge Leute.

An alle appelliere ich:
Lasst uns auch in schwierigen Zeiten mit Zuversicht, Mut und Selbstbewusstsein das wertvolle Erbe unserer Vorfahren erhalten und gemeinsam die Zukunft unseres interessanten und liebenswerten Landes gestalten.

Hier an der Nationalfeier von Uzwil spürt man die Herzlichkeit und die Echtheit der Freude über den 711. Geburtstag der Schweiz. Für diese Heimatliebe danke ich Ihnen. Ich wünsche allen einen schönen und festlichen Abend.

Lukas Reimann, Wil
078 648 14 41 - lukasreimann@nonlimit.ch
Es gilt das gesprochene Wort.